Als Heinrich VIII. im Jahr 1509 den englischen Thron bestieg, war er zwar ein 18-jähriger, sportlicher und ansehnlicher junger Mann, doch seine Dynastie war ebenfalls jung: Heinrich war erst der zweite Monarch der Tudor-Dynastie, die sein Vater 1485 in der Schlacht bei Bosworth auf den Thron gebracht hatte. Heinrichs älterer Bruder war bereits tot, weitere Brüder gab es nicht. Ein Sohn und Thronfolger musste also her. Heinrich hatte eine hübsche, spanische Prinzessin zur Frau genommen, was konnte also schiefgehen? Nun ja…

Heinrich heiratete die spanische Prinzessin Katharina von Aragon am 11. Juni 1509. Katharina war die Witwe von Heinrichs Bruder Arthur, der 1502 im Alter von 15 Jahren nach nur fünfmonatiger Ehe gestorben war. Doch in ihrer zweiten Ehe wurde Katharina recht bald nach der Hochzeit schwanger. Die Freude war groß, und ebenso die Enttäuschung, als Katharina eine Fehlgeburt erlitt. Doch schon bald wurde sie wieder schwanger und brachte 1511 einen Sohn zur Welt, der auf den Namen Henry getauft wurde. Doch er starb bereits nach 52 Tagen. In den folgenden Jahren wurde Katharina noch vier weitere Male schwanger. Bis auf die 1516 geborene Mary, die spätere Mary I., starben alle Kinder kurz nach der Geburt bzw. die Schwangerschaften endeten in einer Fehlgeburt.

Eine weibliche Thronfolge war für Heinrich eine Katastrophe. Er war der Ansicht, nur mit einem Sohn die Zukunft seiner Dynastie retten zu können. Schließlich wurde es immer unwahrscheinlicher, dass seine sechs Jahre ältere und von den vielen Schwangerschaften gezeichnete Frau ihm noch einen Sohn schenken würde. Als dann die verlockende Anne Boleyn auf den Plan trat und ihm Söhne versprach, nähme er sie zur Frau, setzte Heinrich Himmel und Hölle dafür in Bewegung. Es endete in der Anullierung seiner Ehe mit Katharina durch die neuformierte anglikanische Kirche und in der Lossagung vom Papst.

Und dann dieser Stelle möchte ich fragen:

Was wäre, wenn Prinz Henry überlebt hätte?

 

Vater eines Sohns

Ab hier ist natürlich alles meine persönliche Spekulation ohne Anspruch auf irgendwas. Prinz Henry wäre also 1511 geboren worden. Heinrich war 20 Jahre alt. Da er selbst nur der zweitgeborene Sohn war, ist kaum anzunehmen, dass er nicht versucht hätte, weitere Söhne zu zeugen. Nehmen wir an, es wäre so gelaufen, wie es in der Tat lief, und außer Mary wären dem Paar keine weiteren überlebenden Kinder vergönnt gewesen. Doch ein Erbe wäre dagewesen, und als Mutter des zukünftigen Königs wäre Katharina für immer in Sicherheit gewesen. Alles, was die Ehe seiner Eltern infrage gestellt hätte (was Heinrich ja in der Realität versucht hat), hätte Prinz Henrys Thronanspruch gefährdet. Dass Heinrich also auch nur versucht hätte, seine Ehe aufzulösen, um noch mehr Söhne zu haben, halte ich daher für unwahrscheinlich.

Prinz Henry, oder auch Henry Duke of Cornwall (Herzog von Cornwall) wäre also, wie zu jener Zeit üblich, sehr früh mit einem eigenen Haushalt ausgestattet worden. Heinrich liebte seine Kinder zwar, hat sich aber nie über Gebühr für sie interessiert, auch nicht für seinen realen Erben Edward. Daher hätte er vermutlich auch Henrys Erziehung und Ausbildung ausgewählten Personen überlassen. Der König war noch jung und verbrachte seine Zeit lieber mit der Jagd, Sport, Musik und Tanz.

Lies mehr:  Tudor-Weihnachten: Wie Heinrich VIII. Weihnachten feierte

In jener Zeit waren Heinrich und Katharina sehr glücklich miteinander, und ohne den Druck, einen Sohn bekommen zu müssen, sondern in der Gewissheit, ihre Pflicht erfüllt zu haben, wären sie vermutlich auch recht glücklich geblieben. Wahrscheinlich wäre Heinrich der eine oder andere Seitensprung passiert, es hätte Katharina nicht gefallen, aber sie hätte geschwiegen. Sie war die Mutter des Erben, und keine kleine Affäre konnte ihr gefährlich werden.

Nehmen wir an, sie wäre wie in der Realität 1536 gestorben. Heinrich war noch keine 45 Jahre alt. Nicht mehr jung, aber auch noch nicht über dem Alter, in dem eine zweite Ehe sinnvoll wäre. Hätte Heinrich ein zweites Mal geheiratet? Prinz Henry wäre bereits 25, und wahrscheinlich selbst bereits verheiratet und vielleicht Vater eines Sohnes. In diesem Fall hätte es für Heinrich keinen zwingenden Grund gegeben, erneut zu heiraten. Zudem hätte ein weiterer Sohn Henrys Position sogar gefährden können – der Sprößling einer anderen Königin und einer ehrgeizigen Familie wurde schon so manchem älteren Bruder in der Geschichte zum Verhängnis.

Die größte Auswirkung, die das Überleben von Prinz Henry gehabt hätte, wäre natürlich gewesen, dass Heinrichs Scheidung und alles, was damit zusammen hing und darauf folgte, nicht oder wahrscheinlich nicht passiert wäre. Statt eine eigene Kirche zu gründen, wäre Heinrich vermutlich der papsttreue “Verteidiger des Glaubens” geblieben. Wie sich der sich ausbreitende Protestantismus in England ausgewirkt hätte, ist schwer vorherzusagen. Doch der junge Heinrich war nicht nur religiös, er war auch ein Anhänger von Thomas More, der dem König humanistische Ideale nahebrachte und absolut loyal zum Papst stand. Vermutlich hätte Heinrich More sogar als Lehrer für seinen Sohn haben wollen. Der Papst hätte Heinrich bei dem, was er wollte, nicht im Weg gestanden. Der neue Glaube hätte in England also einen weitaus weniger fruchtbaren Boden gefunden, zumindest zu Heinrichs Lebzeiten. Denn anglikanische Kirche hin oder her, abseits vom Papst blieb Heinrich in seinem Inneren immer Katholik.

 

Die letzten Jahre

Als Heinrich 1547 starb, wäre sein Sohn Prinz Henry 36 und vermutlich verheiratet gewesen. Heinrich wäre bei seinem Tod vermutlich mehrfacher Großvater gewesen. Er hätte sich weniger in die Sorgen um den Fortbestand seiner Dynastie hereinsteigern müssen, weniger Kampf um den männlichen Erben, weniger Angst vor einem Attentat in späteren Jahren. Er wäre wahrscheinlich weniger das Monstrum gewesen, als dass man ihn heute kennt. Doch würde man ihn überhaupt kennen? Ohne die beeindruckende Menge an Ehefrauen, ohne die englische Kirchenspaltung? Wir werden es nie erfahren.

Dies war also das Leben Heinrichs VIII., wie es vielleicht verlaufen wäre, hätte er einen Sohn gehabt.

Nun will ich überlegen, wie das Lebens Prinz Henrys verlaufen wäre und wie sich seine Existenz auf Englands Geschichte ausgewirkt hätte. Hier begebe ich mich natürlich auf unbekanntes Gebiet und kann nur aufgrund meines Wissensstandes Vermutungen anstellen, auf denen dann wiederum andere Vermutungen fußen. Ich behaupte nicht, dies sei die einzig mögliche Variante, wie die Geschichte verlaufen wäre.

Henry, der Prinz

Henry erblickte also 1511 das Licht der Welt und bekam 1516 eine kleine Schwester namens Mary. Da es die Ehe mit Anne Boleyn nicht gab, gab es auch keine Schwester Elizabeth. Anne Boleyn war vielleicht die Frau von Henry Percy und somit Herzogin von Northumberland – nicht ganz so hoch gestiegen, aber dafür wäre sie wohl kaum auf dem Schafott gestorben.

Lies mehr:  Die sechs Frauen Heinrichs VIII.: Anna von Kleve

Gehen wir davon aus, dass Heinrich nach dem Tod seiner Frau 1536 entweder nicht noch einmal geheiratet hat oder dass zumindest keine weiteren Söhne bekommen hätte. Henry blieb also der einzige Sohn und Erbe. Er wird, wie Heinrich selbst, die beste Ausbildung bekommen haben, die die Renaissance zu bieten hatte. Sein Vater schätzte zu jener Zeit Sir Thomas More und die Ideale des Humanismus sehr hoch, als ist es denkbar, dass er More zum Lehrer seines Sohns bestimmt hätte. Henry wurde also mit Humanismus, aber auch mit der Treue zu Rom vom streng katholischen More erzogen.

Die Tudor-Dynastie nach Heinrich VIII.

Da Henry als einziger Erbe durch eigene Erben den Fortbestand der Dynastie sichern musste, stand die Frage seiner Heirat quasi sofort nach seiner Geburt im Raum. Zudem sollte seine Ehe natürlich eine Allianz mit einem mächtigen Königshaus Europas schließen.

Zwei Töchter aus bestem Haus wären von Alter und Abstammung her gut für Henry infrage gekommen: Katharina von Kastilien, Tochter Johannas von Kastilien, der Schwester Katharinas von Aragon und Renée de France, Tochter von Ludwig XII. von Frankreich, der Henrys Taufpate war.

Katharina von Aragon hätte sicher gern eine Allianz mit ihrem Heimatland Spanien gesehen, doch wenn man bedenkt, dass für den Erben von Heinrich VIII. gerade das Beste gut genug gewesen wäre, gab es ein Problem: Johanna von Kastilien, nach dem Tod ihrer Mutter Königin von Kastilien und León, war dem Wahnsinn verfallen, nachdem sie 1506 ihren geliebten Mann verloren hatte. Schließlich wurde sie weggesperrt. Ihre jüngste Tochter Katharina, vom Alter her Henry am nächsten (geboren 1507), lebte mit ihrer Mutter in Gefangenschaft, bis sie 18 Jahre alt war. Die ideale Braut? Unwahrscheinlich. Ihre ältere Schwester Maria war als unattraktiv überliefert und zudem sechs Jahre älter als Henry. Seine Eltern waren zwar ähnlich weit auseinander, doch brachte eine ältere Braut immer ein Risiko mit sich, wenn es um die Fortpflanzung ging.

Unter diesen Umständen wäre die Wahl vielleicht doch eher auf Frankreich gefallen, denn hier gab es Renée, Tochter des Königs und keine drei Monate älter als Henry. Die Allianz mit Spanien hätte man über eine Ehe von Henrys Schwester Mary schmieden können, z.B. mit Ferdinand, dem jüngeren Bruder Karl V. So wäre England mit beiden Herrschaftshäusern verbündet – zumindest, so gut das eben in der Praxis funktioniert hat.Renée de France

Die Hochzeit von Henry und Renée wäre wohl um 1528 gefeiert worden, das Jahr, in dem Renée auch in der Realität heiratete. Die Eheleute wären also 17, 18 Jahre alt gewesen, alt genug, um die Ehe zu vollziehen. Renée hatte in der Realität fünf Kinder, die alle das Erwachsenenalter erreichten. Hätte Henry also nicht die Probleme seines Vaters, stand einer königlichen Kinderschar also nichts im Weg, und die Dynastie wäre gesichert.

Henry, der König

Henry hätte nach dem Tod seines Vaters 1547 im Alter von 36 Jahren den Thron bestiegen. Als Sohn zweier treuer Katholiken und als Schüler von Thomas More wäre Henry (ich bleibe der Unterscheidbarkeit wegen bei diesem Namen, auch wenn er als Monarch nun Heinrich IX. gewesen wäre) den Ideen der Reformation sicher weniger aufgeschlossen gewesen. Seine Frau Renée wäre den Lehren Calvins in späteren Jahren vielleicht zugeneigter gewesen, doch ob das eine Revolution im ganzen Land hervorgerufen hätte, ist fraglich. Wie England sich während der Reformation entwickelt hätte, ohne den massiven Druck der königlichen Scheidung und der Loslösung von Rom ist schwer zu sagen. Früher oder später hätte der Protestantismus vermutlich auch in England Fuß gefasst, vielleicht bereits unter Henrys Nachfolger. Doch der große religiöse Krieg, wie er unter Heinrich stattgefunden hatte, mit über 70.000. Exekutionen, der Auflösung der Klöster und der Gründung der anglikanischen Kirche wäre ausgeblieben. Henry hätte vermutlich über ein deutlich ruhigeres England regiert.

Lies mehr:  Der kuriose Weg der britischen Thronfolge: Von den Tudors zu den Stuarts

Wäre alles gut verlaufen, hätte Henry im Alter von 60 bis 65 Jahren das Zeitliche gesegnet, also etwa 1571 bis 1576.

Quo vadis, England?

Wie es so mit ruhigen Zeiten und weniger Massakern ist: Die Tudorzeit wäre uns heute längst nicht so prägnant aufgefallen wie sie es in der Realität tut. Allerdings wäre es auch unwahrscheinlich, dass, auch ohne Kirchenspaltung, es keinerlei Kriege oder Glaubensunruhen in England gegeben hätte. Was diese Dinge ausgelöst hätten, vermag ich nicht zu prognostizieren. Doch folgende Dinge hätte es wahrscheinlich nicht gegeben bzw. sie wären komplett anders verlaufen:

  • Anne Boleyns Werdegang zur Herzogin von Northumberland habe ich bereits erwähnt. Auch die anderen Frauen Heinrichs VIII. hätten vermutlich andere Ehemänner gefunden. Ihre Namen würde heute wohl kaum jemand kennen.
  • Thomas More wäre das Märtyrerschicksal erspart geblieben, während der reformierte Kirchenmann Thomas Cranmer vermutlich seine Ansichten für sich behalten oder das Land hätte verlassen müssen.
  • Die anglikanische Kirche würde in dieser Form nicht existieren. Möglich, dass sich England irgendwann dem Protestantismus zugewandt hätte, aber dafür wäre keine eigene Kirche vonnöten gewesen. Auch die gewaltsame Auflösung der Klöster hätte nicht stattgefunden, und uns wären viele Gebäude und Kunstschätze erhalten geblieben.
  • Edward VI. und Elizabeth I. wären nie geboren worden. Weder Jane Grey noch Mary Stuart hätten auf dem Schafott sterben müssen (in Marys Fall zumindest nicht auf einem englischen Schafott).
  • Einer der größten englischen Triumphe, die abgewehrte Invasion der spanischen Armada, hätte wahrscheinlich nicht stattgefunden. Man kann nie ausschließen, dass sich das Verhältnis zu Spanien allen Ehen zum Trotz verschlechtert hätte, aber ob Phillip von Spanien ohne den Glaubenskonflikt eine Armada entfesselt hätte, ist diskutabel.
  • Die religiöse Spaltung Englands, die in dieser Form nicht stattgefunden hätte, hätte weder die Pulververschwörung um Guy Fawkes noch den englischen Bürgerkrieg beeinflusst. Zudem wäre die englische Thronfolge über Jahrhunderte anders gewesen, denn durch den Act of Settlement wurden im Jahr 1701 Katholiken von der Thronfolge ausgeschlossen.

Natürlich ist der Gedanke verlockend, dass England ohne den großen Streit zwischen Heinrich VIII. und dem Papst eine gemäßigtere Übereinkunft der Religionen erreicht hätte und alle Greuel, die dieser Zwist mit sich brachte, nicht geschehen wären. Doch kaum einem Land ist es in den Jahrhunderten nach der Reformation gelungen, Frieden zwischen den Konfessionen über längere Zeit zu wahren. Daran hätte auch kein König Heinrich IX. etwas geändert.

Entdecken:

1 Comment

  1. Irene Hackner says:

    Hi:) da bin ich wieder,
    Du hast Recht ohne seine enorme Anzahl von Ehefrauen und seine spätere Fettleibigkeit wäre er wohl als irgend ein unbedeutender Monarch in die Geschichte eingegangen und außerdem hätte es das elizabethiabische Zeitalter nicht gegeben. Vielleicht war es ja ganz gut so

    LG Irene

Comments are closed.